Brettspiele schreiben Geschichte – eine Zeitreise

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Panorama of Europe, Wallis, London 1816 (mit 12seitigem Heft, Spielregel und Angaben zu Sehenswürdigkeiten)
Neues Luftballon-Spiel – Die Lenkbaren, Adolf Engel, Berlin um 1900

Spiele – nicht umsonst heißen sie  auch Gesellschaftsspiele –  sind seit den letzten 200 Jahren immer mehr Ausdruck des Zeitgeistes und geben, was ihre Bildwelt und  spieltechnische Gestaltung betrifft, durch eine ikonographisch-narrative Verknüpfung mit der Zeitgeschichte Einblicke in das, was  eine Gesellschaft geprägt hat.

Spätestens seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, mit dem Aufkommen eines bildungsmäßig und ökonomisch emanzipierten Bürgertums, finden wir Spiele mit historischem oder geographischem Bezug, häufig in der Form klassischer Gänsespiele, deren Felder sich anboten, mit neuen, dem Zeitgeist entsprechenden Bildinhalten gefüllt zu werden. Es waren Ende des 18. Jahrhunderts vor allem Reisen (Bildungs-, Handwerker- und Handelsreisen) und Themen mit erbaulich-moralischem oder das Wissen förderndem Gehalt, die ihren Eingang in die Spieleproduktion fanden.

Bild links: Science in Sport or Pleasures of Astronomy, Wallis, London 1805 (mit 16seitigem Heft mit wissenschaftlichen Angaben)
Bild rechts: The Mirror of Truth, Wallis, London, 1811 (exhibiting a Variety of Biographical Anecdotes and Moral Essays)

In Deutschland führten die Turbulenzen in der Zeit der Kriegszüge, mit denen Napoleon Europa überzog, zu einem Stillstand, was das ludophile ,Sich-Outen’ betraf. Nach Napoleons Niederlage und dem Einsetzen der Restauration unter Metternich zogen sich die  Deutschen in der Biedermeierepoche auf die Privatsphäre zurück, wofür hier vielleicht das folgernde Spiel stehen kann.

Das  Gastmahl, o. w. A., um 1840/50

Aber bald, vor allem ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, konnten praktisch alle Themen gesellschaftlichen Lebens und von historischer Bedeutung ihre Verwendung bei den Spieleherausgebern finden. Im Folgenden einige Spiele aus der deutschen Kaiserzeit.

Mit dem Sieg über Frankreich 1870/71 und der Gründung des Deutschen Reiches, der anschließenden Gründerzeit und der Entwicklung des preußisch dominierten Deutschlands von einem Agrarstaat zu einem in Europa in fast allen Bereichen führenden Industriestaat, sind die Möglichkeiten der Spiele- und Spielzeugindustrie schier unendlich, Themen aktuellen Zeitgeschehens aufzugreifen und zu verarbeiten. Wir stoßen aber  jetzt häufig, und in der Regierungszeit Wilhelm II. immer mehr, auf Spiele mit einem militärischen Bezug. Es sind Kriegsspiele, die nicht wie klassische Strategiespiele (etwa Schach, Dame, Halma Mühle etc.) gestaltet sind, sondern ebenfalls ein historisches Narrativ beinhalten. Als  Kriegsspiel werden sie als einfaches Lauf-Ereignisspiel oder aber auch durchaus ähnlich wie im klassischen Strategiespiel gespielt. Dazu kommen dann noch Kartenspiele und Puzzles bzw. Würfelkästen mit militärischem Bezug. Die Spiele nehmen in ihrer Bildwelt und Spielgestaltung (Laufen / Ereignisfelder, Ziehen / Schlagen) zeitgenössische kriegerische Ereignisse auf, können dabei aber auch rückblickend auf Vergangenes zugreifen und gar vorausschauend Befürchtetes oder Erwünschtes spielerisch vorwegnehmen. 

Die Entwicklung  solcher Spiele nimmt bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs enorm zu und wird offensichtlich durch die Überbetonung alles Militärischem unter Wilhelm II. (Wilhelminismus) noch verstärkt. Die Flut solcher Spiele ist bis zum Ersten Weltkrieg so gewaltig, deren Gestaltung so ansprechend und verführerisch, dass man fast von einer gesellschaftlich kalibrierenden Wirkung solcher Spiele sprechen und frei nach Christopher Clark sagen könnte: Man sei, zumindest was Deutschland betrifft, nicht nur „stolpernd“ sondern auch, und vielleicht nicht zum geringsten Teil, spielend in den Krieg eingetreten. Spielend in den Krieg, dazu einige Beispiele:

Das von einem Dr. F Jorre und einem Hauptmann Hueg bearbeitete Jung-Deutschland`s Schlachtenspiel, bei dem man insgesamt fünf verschiedene, historische Schlachten nach-spielen kann, lässt einen fast schon an eine Lehrstunde in Militärkunde denken. 

Ein weiteres Beispiel:

Mit dem hier  abgebildeten Spiel Neuestes Kriegsspiel (etwa 1910) lässt sich die Auseinandersetzung mit Frankreich einerseits nachspielen und gleichzeitig – Deutschland war zu der Zeit bereits politisch isoliert und fühlte  sich bedroht – spielerisch vorwegnehmen. Gibt der Spielplan doch topographisch und situativ einen Ausschnitt aus dem Angriffs- (erfolgreich 1870/71) und  Stellungskrieg (1914/18) der Deutschen auf ihrem Weg nach Paris, bei dem sie Flüsse wie die Aisne zu überwinden hatten, wieder. 

Und kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges kann man mit dem Spiel Der Kampf an der Aisne (1914) schon zeitgleich den Krieg an der Aisne mitspielen, an der es  dann zum für beide Seiten erfolglosen Stellungskrieg kommen sollte.

Dem Krieg gar schon etwas Heimeliges und spezifisch Deutsches abzugewinnen scheint der Verleger des Kartenspiels Großes Kriegs-Quintett, das er auf dem Deckelbild folgendermaßen anpreist:

Großes Kriegs-Quintett – das zeitgemäße und schönste vaterländische Gesellschaftsspiel - Für jede deutsche Familie – das schönste und unterhaltendste Gesellschafts-Spiel  … Das zeitgemäße deutsche Spiel – an den langen Winterabenden – für Groß und Klein, für Alt und Jung _ Jeder spielt voll Freude mit – ob zu zwölfen oder zu dritt. (Tote im Ersten Weltkrieg: 9,7 Mill. Soldaten, 10 Mill. Zivilisten*)

*Angaben variieren enorm

Hier  ein Spiel, das zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig herauskam. Der Spielplan zeigt die Gefechte zwischen Blücher und Napoleon, bis es zur Völkerschlacht in Leipzig und Napoleons Niederlage kam. Auf dem Deckelbild in der Mitte das 1913 errichtete Völkerschlachtdenkmal und unten rechts, wie an eine Stifterfigur auf einem Altarbild  erinnernd, der behelmte Wilhelm II. Will er sich gar mit Blücher vergleichen?

Zu den folgenden vier Spielen:

Das Weltkriegsspiel ist ein Zeichen für die bedrängte Lage Deutschlands, das – der ,Nibelungentreue’, wie man gesagt hatte, folgend – sich im Krieg an die Seite Österreichs gestellt hatte. 

Das Spiel ganz rechts zeigt auf dem Deckelbild die als Wunderwaffe bezeichnete ,Dicke Bertha’, eine Kruppkanone, die in der stärksten Version 150 Tonnen wog und  gegen die belgischen und französischen Forts eingesetzt wurde, im späteren Stellungskrieg aber nicht zu gebrauchen war. 

Auf den beiden Geschicklichkeitsspielen in der Mitte – links der Siegeslauf der Deutschen nach Paris, rechts das Pendant dazu, The Silver Bullet Or The Road to Berlin – erträumen sich Deutsche und Engländer den Sieg. Die  Kugel muss jeweils geschickt durch Hindernisse bis zum Ziel (Paris/ Berlin) gebracht werden. Die Hindernisse sind topographischer und militärischer Art (Forts, befestigte Städte) und im Einzelnen aufgeführt. Auf dem deutschen Spiel  lässt sich hier der ganze Schlieffenplan ablesen (Belgien Grenze, Fort Lüttich,  Maastal, Huy / Namur / Dinant, Rocroi / St. Quentin / Lille, Oise / Aisne, La Fère / Reims / Verdun, Festungsgürtel / Forts, Paris, Sieg), dessen Verwirklichung dann allerdings scheiterte.

Text & Bilder: Wolfgang Morawe

Literatur zum Thema: Kriegsspiele, 19.Jahrhunder und Erster Weltkrieg:

Wolfgang  Morawe, Spielend in den Krieg – Das Deutsche Kaiserreich und der Erste Weltkrieg, Brettspiele als Spiegel der Gesellschaft, Schlosser Verlag, 334 S., über 1.100 farbige und 250 schwarz-weiße Abb., Die Abbildungen können in Vergrößerung über einen Link im Buch (S. 2) aus einer Cloud abgerufen werden. Dort sind ebenfalls Nachträge abrufbar. ISBN: 978-3-96200-164-3, Preis 49,95 €, zzgl. Versand. Bestellung beim Autor (w.morawe@web.de).

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